Großsiedlungen als Chance – Teil 01

Von Trabantenstädten der Nachkriegsmoderne, Corona-Stadtflucht und der Debatte um Einfamilienhäuser.

Die Großstädte in Deutschlands Ballungszentren kämpfen seit Jahren mit einem enormen Wohnungsmangel. Nachdem dieser Bereich jahrzehntelang vernachlässigt wurde, hat die Realisierung von neuem Wohnraum sowohl in der Politik als auch in der Stadtplanung wieder an Bedeutung gewonnen. Die vor Jahren gestartete Wohnraumoffensive der Bundesregierung hat das Problem des mangelnden Angebots jedoch nicht gelöst.1 Der Druck auf dem Wohnungsmarkt ist so enorm, dass vielerorts Planungen für Stadterweiterungen entstehen. Zwar hat sich durch die Corona-Pandemie der Mietenmarkt in den Innenstädten teilweise etwas entspannt, jedoch verstärkte sie die Nachfrage nach Wohnraum an den Grenzen der Stadt und um sie herum. In diesen Speckgürteln steigen die Mieten schneller als in den innerstädtischen Gebieten. Die Corona-Pandemie wirkt beim Wunsch nach Wohnraum im vermeintlich Grünen wie ein Strukturbeschleuniger.2

Quelle: BBSR

Anders als die Trabantenstädte der 1960er und 1970er Jahre suggerieren die neuen Stadtquartiere jedoch eine bessere Lebensqualität, Infrastruktur und Einbindung in das soziale Gesamtgefüge der Stadt. Doch ist das bei einer Neuplanung „auf der grünen Wiese“ überhaupt möglich und diese Vorgehensweise der richtige Weg? Neue Siedlungen, vornehmlich Einfamilienhäuser, versiegeln überdurchschnittlich viel Fläche und stehen im Konflikt mit den meisten unserer Natur- und Klimaschutzzielen.3 Nachhaltiger als Baugebiete im Außenbereich der Städte auszuweisen ist eine integrierte Stadtentwicklung, welche Zwischenzonen und Brachflächen im bestehenden Stadtgebiet nutzt.

Die Trabantenstädte Deutschlands der 1960er und 1970er Jahre befinden sich in eben diesen Randgebieten der Ballungsräume. Der Städtebau der Moderne weist in den Großsiedlungen überdimensionierte Abstands-grünflächen, breite Verkehrsachsen und oberirdische Parkplatzflächen auf, welche sich als potenzielle Bereiche für eine Nachverdichtung herausstellen können. Diese Nachverdichtung der Großsiedlungen mit einem anpassungsfähigen und robusten Städtebau, der Veränderungen zulässt, schafft Vorteile sowohl für das bestehende Quartier als auch für die neue Struktur. Qualitativ hochwertige, vielfältige Wohnungstypologien, öffentliche Einrichtungen und eine gute Infrastruktur wirken sich positiv auf den gesamten Stadtteil aus und können als Katalysator für soziale Prozesse dienen.

Das Potenzial zur Nachverdichtung haben nahezu alle Großsiedlungen der Moderne in Deutschland. Köln Chorweiler dient, das es dort bereits konkrete Planungen für eine Stadterweiterung gibt, als Experimentierfeld für diese Arbeit. Der Großraum Köln wächst seit Jahren stetig und benötigt dringend neuen Wohnraum. Nördlich von Chorweiler wurde bereits in den 1980er Jahren der neue Stadtteil Kreuzfeld für rund 5000 Bewohner geplant. Seitdem wird die Realisierung von der Politik immer wieder aufgegriffen, bis dato aber nie weiter konkretisiert. Im Zuge der steigenden Wohnungsnachfrage wird die Realisierung
jedoch immer wahrscheinlicher. Warum sollte der Wohnraum für die 5000 neuen Bewohner aber mitten auf der grünen Wiese in einem Bereich mit schlechter Infrastruktur geschaffen werden und nicht eingebunden in einen bestehenden Stadtteil wie Chorweiler Mitte und mit diesem eine positive Wechselwirkung eingehen?

Bild: CHCC Kollektiv

Geschichte der Trabantenstädte in Deutschland.

Stadt und Land
Zwischen dem Entstehen der meisten heutigen Großstädte in Mitteleuropa und dem Beginn des 19. Jahrhunderts veränderte sich wenig an dem klar getrennten Verhältnis von Stadt und Land. Nur etwa 25% der deutschen Bevölkerung lebten in den Städten und 75% auf dem Land.4 Das 19. Jahrhundert wurde jedoch dann stark durch die Industrialisierung und das damit verbundene Bevölkerungswachstum in den Städten, Landflucht und erhöhtem Wohnflächenbedarf geprägt. Der Bau der Eisenbahn definierte die Bedeutung von Städten neu. Vorher abgelegene Städte wurden nun durch gute Bahnanbindung wichtige Zentren, andere Städte verloren an Bedeutung. Industrielles Wachstum und der damit verbundene Arbeitskräftebedarf lies die Städte schnell prosperieren. Die städtebauliche Entwicklung überschritt schnell die engen Grenzen der vorindustriellen Stadt. Erste Massenverkehrsmittel wie Pferdebahn, Straßenbahn oder das Fahrrad verstärken ab 1880 bis 1900 das Außenwachstum. Fabrikanlagen und die dazugehörigen Arbeiterviertel mit Mietskasernen entstanden in den Altstädten der Metropolen. Städteverbundgebiete wie das Ruhrgebiet entstehen.

Vorstädte
Das Bürgertum reagierte auf die durch Überbevölkerung schlechten Lebensverhältnisse mit dem Wegzug in Vororte oder ins Umland. Diese Suburbanisierung wurde durch die nun gute Verbindung der Vororte mit den Stadtzentren durch die Eisenbahn, Straßenbahnen und zuletzt auch das Automobil gefördert. Die entstandene, breite Mittelschicht errichtete Einfamilien- und Reihenhäuser außerhalb der Stadt. Ökonomische, ökologische und soziale Folgen wie die Zersiedlung bisher unbebauter Gebiete, das massive Wachstum des Autoverkehrs und eine soziale Entmischung der Bevölkerung resultierten aus der Suburbanisierung.

Gartenstädte
Um dem unkontrollierten Wachstum entgegen zu wirken, wurden ab 1900 im Zuge eines Reformversuches Bauzonenordnungen erlassen. Dadurch sollte eine Auflockerung der monotonen, rechteckigen Blockbebauung durch Plätze und Durchgrünung erfolgen. Gleichzeitig begannen die ersten Sanierungsmaßnahmen an den mittelalterlichen Stadtkernen, welche in vielen Städten überbevölkert, unhygienisch und verbaut geworden waren. Die einzige Lösung war vielerorts nur der Abriss ganzer Quartiere.
Das Konzept der Gartenstadt des Briten Ebenezer Howard aus dem Jahr 1898 stellte einen Gegenentwurf zu den schlechten Wohn- und Lebensverhältnissen und steigenden Grundstückspreisen in den Großstädten dar. Viele der ersten Gartenstädte Deutschlands, so wie der Stadtteil Margarethenhöhe in Essen 1907, waren Werkssiedlungen für die Arbeiter der großen Fabriken. Die Grundidee des Gartenstadt-Konzepts von Ebenezer Howard war die Schaffung von Städten mit 300.000-500.000 Einwohnern mit einer Reihenbebauung aus niedrigen Einzelhäusern und Gärten zur Selbstversorgung zugeordnet zu jedem Haus.5 Durch den Beginn der Zeit des Nationalsozialismus musste sich jedoch auch die Gartenstadtbewegung den politischen Gegebenheiten unterwerfen.

Zweiter Weltkrieg und Wiederaufbau
Durch den zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland rund 3,5 Millionen Wohnungen zerstört und viele Städte mit 50.000-150.000 Einwohnern verloren teilweise 50% ihres Wohnungsbestandes. Zusätzlich strömten zwischen 11 und 12 Millionen Kriegsflüchtlinge in das heutige Gebiet von Deutschland. Der Wiederaufbau der zerstörten Städte erfolgte jedoch nicht überall gleich, sondern mit fünf unterschiedlichen Methoden.6
Diese waren im Folgenden:

  1. Neuordnung: Komplette Neuordnung des Stadtkerns mit Umlegung und teilweise neuem Straßennetz.
    Beispiele: Pforzheim, Hannover und Chemnitz
  2. Partielle Neuordnung: Neuordnung erfolgt nur teilweise und durch Umlegung und Durchbrüche von Verkehrsachsen. Beispiele: Essen, Dortmund, Düsseldorf, Köln, Dresden
  3. Restaurierung: Weitgehende Wiederherstellung der mittelalterlichen Struktur trotz starker Zerstörung.
    Beispiele: Nürnberg, München, Lübeck
  4. Baulücken: Wiederaufbau der entstandenen Baulücken ohne eine übergreifende Neuordnung. Dies geschah jedoch eher nur in den weniger zerstörten Städten. Beispiel: Wuppertal
  5. Neue Städte und Stadtteile: Neue Städte für die Vielzahl an Flüchtlingen und Wohnungssuchenden
    sowie im Umkreis neuer Industrieansiedlungen entstanden. Beispiele: Bielefeld-Sennestadt, Eisenhüttenstadt

Konzepte, die einige stark zerstörte Städte an anderer Stelle neu errichten wollten, kamen nicht zu tragen da immer die wertvolle Infrastruktur wie Straßen, Kanalisation oder Leitungsnetz erhalten war.

Entstehung der Großsiedlungen
Kräftiges Wirtschaftswachstum und die Industrialisierung der Güterproduktion waren in den 60er Jahren wichtige Triebkräfte für gesellschaftliche Veränderungen. Die Kaufkraft wurde gestärkt und der Warenkonsum gesteigert. Zuwanderung und steigende Geburtenraten führten zu einem starken Bevölkerungswachstum und damit verbundenem Bedarf nach Wohnraum. Der Beginn der 1960er Jahre markiert einen Paradigmenwechsel in der Stadtplanung. Die Monofunktionalität des Städtebaus der Moderne in den 1950er Jahren geriet in die Kritik der Architekten und Stadtplaner.7 Für die Gegner der klar gegliederten Stadt der Moderne fehlte es an Vielfalt, Komplexität, Funktionsmischung und Dichte in den neuen Quartieren. Ihrer Meinung nach wollten die Bewohner keine Leere und Ordnung, sie wollen Menschen beobachten und an einem öffentlichen Leben teilhaben.8 Eine neue Urbanität wurde gefordert, diese wurde jedoch meist nur auf Dichte und Ballung reduziert. Dies wurde auch beim CIAM 1951 in Hoddesdon, England festgehalten. „The Heart of the City“ („Das Herz der Stadt“) war das übergeordnete Thema zu welchem sich die Mitglieder des CIAM mit den zuvor vernachlässigten Funktionen des Stadtzentrums auseinandersetzten. Der Wiederaufbau der Stadtkerne ging vielerorts nur schleppend voran und ganze Viertel wurden abgerissen um Platz für neue Gebäude zu machen. Eine erhaltende Modernisierung war hier die absolute Ausnahme. Eine Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung wurde bewusst angestrebt. In den gründerzeitlichen, unsanierten Altbauwohnungen blieben vor allem viele sozioökonomisch schwächere Bewohner, Ausländer, Ältere oder Arbeitslose, aber auch Althausbesitzer aus der Mittelschicht zurück.9
Die Mittelschicht und vor allem junge Familien zogen in die neu entstandenen Großsiedlungen der Vorstädte, da dort bessere Wohn- und Lebensqualität geboten wurde als in den teilweise unsanierten Stadtzentren. Dort gab es Sanitärräume in jeder Wohnung, helle Wohnräume und Spielflächen für Kinder. Jedoch kritisierten die neuen Mieter der Siedlungen die längeren Wege, eine vor allem kurz nach Fertigstellung schlechte Infrastruktur, teurere Mieten und den Verlust des gewohnten Sozialmilieus. Die Architektur der neuen Großsiedlungen zwang den Bewohnern die Konzentration auf die Kernfamilie auf. Die Blockstruktur der klassischen Mietskaserne und die damit verbundene Ausgewogenheit von Teilnahme und Distanz in der Stadt war hier nicht mehr gegeben.

Gesellschaftlicher Kontext
Sowohl Optimismus als auch Angst charakterisieren die Stimmung von der Mitte der 1950er bis zu den 1970ern. Der kalte Krieg, die Angst vor einer atomaren Krise, Terror durch ETA und RAF und die Ölkrise verunsichern die deutsche Bevölkerung. Technologische Entwicklungen wie der Flug zum Mond und die Möglichkeit als Normalverdiener mit dem Flugzeug in die ganze Welt zu reisen eröffnen komplett neue Welten.10 In der Wirtschaft findet ein Paradigmenwechsel hin zum tertiären Sektor statt. Die wöchentlichen Arbeitsstunden werden verringert. Die klassische Rollenverteilung in der Familie löst sich langsam auf und es wird vermehrt Wert auf Individualität gelegt. Neue Lebensmodelle neben dem der klassischen Familie entstehen.11 Zusätzlich verstärkt sich das Interesse der Bevölkerung an der Politik. Jugend- und Studentenbewegungen demonstrieren gegen den Vietnamkrieg und eine anti-amerikanische Stimmung kommt in Teilen Europas auf.12 Die Renaissance des marxistischen Lebens sorgt für ein liberales, neues Demokratiedenken.

Großsiedlungen als Kinder ihrer Zeit?
Der Neubau der Großsiedlungen erfolgte als Pendant zum Umbau der Innenstädte in Form von hochverdichteten und meist auch vielgeschossigen Siedlungen im Randbereich der Städte, meist um einen U- oder S-Bahn Haltepunkt herum. Bis dato gab es keine Erfahrungen auf die man in Bezug auf Größe und Dichte zurückgreifen konnte und so führte der auf Technik gegründete Fortschrittsoptimismus der 1950er-1960er Jahre teilweise zu einem völligen Verlust von Maßstäblichkeit.13 Die neuen Stadtteile sollten effektiv, funktional und rational geplant werden um allen Bewohnern optimale und gleichwertige Lebensbedingungen zu ermöglichen. Die sozialen Absichten der Planer und Architekten standen jedoch im Kontrast zu denen der Siedlungsträgergesellschaften. Aus deren wirtschaftlichen Interessen wurden die Gebäude meist größer als geplant. Eine zusätzliche Rationalisierung der Bauweise ließ keinen Raum für andersartige Wohnformen und die freie Entfaltung des Einzelnen wie eigentlich von den meisten Architekten geplant. Planungsansätze, die beispielsweise mehrere Zentren vorsahen wurden zugunsten erprobter Strukturen mit nur einem Zentrum aufgegeben. Ein Beispiel hierfür ist die Frankfurter Nordweststadt nach den Planungen von Walter Schwagenscheidt und Tassilo Sittmann.14

Großer Kritikpunkt der ersten Bewohner der Siedlungen waren zuerst nur marginal oder gar nicht vorhandene Infrastrukturen und Außenanlagen. Auch dauerte es nicht lange dass aufgrund der im Bau preiswerten Großplattenbauweise und den damit verbundenen Bauschäden erste Sanierungen nötig wurden.

Kritik und sozialer Abstieg
Über ein Jahrzehnt lag der Fokus der Stadtentwicklung im Wesentlichen auf großformatigen Stadterweiterungen im Randbereich und radikalen Umbauten im Innenstadtbereich mit der damit verbundenen Verdrängung der Wohnbevölkerung. Mit dem Beschluss des Stadtbauförderungsgesetzes wollte man 1971 durch ein Rechts- und Fördersystem eine behutsamere Sanierung der Innenstädte einführen.15 Sanierungen mit Flächenabrissen und Neubau wurden jedoch erst mit dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 wirklich gestoppt.16 Eine Rückbesinnung auf das bauhistorische, kulturelle Erbe mit Erhaltung und Sanierung bestehender Gebäude und der Revitalisierung von Zentren und Nebenzentren wurde gefordert. Bis 1990 waren so nahezu alle historischen Stadtkerne Westdeutschlands saniert.
In Bezug auf den Wohnungsbau wurden in Westdeutschland ab den 1970er Jahren zunehmend Einfamilien- und Reihenhaussiedlungen gebaut. Das resultierte aus materiellen Voraussetzungen und Zielsetzungen in der Wohnungspolitik der Bundesrepublik. Der Durchschnittsbedarf an Wohnfläche pro Einwohner stieg seit den 1970ern von 22qm/Person immer weiter an.17
Preiswertes Bauland in den ländlichen Gemeinden um die Großstädte führte zu einer Stadtflucht und der Verminderung von Einwohnerzahlen in den Städten selber. Die Randgemeinden wurden dagegen immer größer und wohlhabender. Durch Publikationen wie „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ von Alexander Mitscherlich (1965) gerieten die Großwohnsiedlungen allmählich in die allgemeine Kritik und wurden zum Symbol für einen inhumanen Städtebau.18 Die Mittelschicht zog nach und nach aus den Großsiedlungen weg und wurde zunehmend durch Problem- und Randgruppen ersetzt. Waren die Wohnungen in den großen Wohnkomplexen einst ein Zeichen für den sozialen Aufstieg gewesen so wurden sie nun zu einem sozialen Stigma. Der Prozess der Entmischung der Bewohnerstruktur begann und damit eine Abwärtsspirale aus
Desinteresse, Vandalismus und Kriminalität, welche viele der Großsiedlungen mit der Zeit in Verruf brachte.19

Flächenverbrauch Siedlungstypen (Quelle: CHCC Kollektiv)

Sind die Großsiedlungen gescheitert?

Zustand der Siedlungen heute
Trotz der Vielzahl an Förderungsprogrammen weisen viele der Großsiedlungen strukturelle Probleme auf, die auch Folgeprobleme für die benachbarten Stadt- und Landschaftsräume mit sich bringen. Die Funktion der Quartiere ist weiterhin fast ausschließlich auf Wohnen ausgerichtet und häufig fehlt eine funktionale und gestalterische Einbindung in die Umgebung. Den heutigen veränderten sozialen und demographischen Anforderungen trägt das vorhandene Raumangebot keine Rechnung. Neben den homogenen Großformen, die ihren Bewohnern eine Identifikation und Orientierung im Viertel erschweren, erweisen sich auch die soziale Stabilisierung und die umweltverträgliche, ökonomisch tragfähige Weiterentwicklung als zunehmend bedeutende Bestandteile einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Nachdem über Jahrzehnte lediglich Nachbesserungen erfolgten müssen die Quartiere nun zu eigenständigen und multifunktionalen Stadtteilen entwickelt werden. Zukünftige Strategien beinhalten Funktionsergänzungen, stadträumliche Integration, Solidarität zwischen Sozialgruppen und Engagement der Bürgerschaft. Bei der Analyse des heutigen Zustandes der Großsiedlungen in der Bundesrepublik vermischen sich sozialpolitische und bauliche Probleme. Eine Trennung dieser beiden Aspekte kann nur teilweise vorgenommen werden da sie zumeist ineinandergreifen.

Schlechtes Image und soziale Probleme
„Filtering Down Prozesse“ durch eine soziale Stigmatisierung der Großsiedlungen („push“ Faktoren) und die Förderung des Neubaus von vornehmlich Einfamilienhäusern im randstädtischen Bereich („pull“ Faktoren) führten zum Wegzug von Besserverdienenden aus den Siedlungen.20 Eine soziale Durchmischung des Stadtteils findet dadurch immer weniger statt. Durch undifferenzierte, niedrige Mietpreise ziehen daraufhin immer mehr subventionsabhängige Mieter zu. Die stabilisierende Wirkung sozialer Schichtung geht verloren.
Zudem entsprechen die meisten Gebäude nicht mehr dem zeitgemäßen Anspruch an eine Wohnung. Verwahrlosung und Leerstände führen zu Vandalismus und Desinteresse auf Seiten der Bewohner.21
Viele der Großsiedlungen leiden unter einem, durch die Medien forcierten, schlechten Ruf. Wenn über die Quartiere berichtet wird passiert das zumeist um Klischees zu bedienen. Meist werden lediglich negative Ereignisse publiziert, die dann zum schlechten Ruf der Siedlungen beitragen. Tatsächlich können deren Bewohner diese Vorurteile größtenteils nicht nachvollziehen. Die Zufriedenheit der Bewohner ist in den meisten Fällen relativ hoch und nicht selten bleiben Kinder und Kindeskinder im Quartier.22
Die soziale Stigmatisierung der Bewohner sogenannter „Problemviertel“ trägt dazu bei dass diese sich teilweise schlicht und einfach nicht anderweitig orientieren können. Bereits in der Schule und bei der Suche nach Ausbildungsstelle oder Arbeitsplatz stellt sich die Heimatadresse in einem problematisch angesehenen Viertel als Nachteil heraus. Das schlechte Image der Großsiedlungen ist demnach ein großes Problem. Um die Viertel wieder zu lebenswerten Stadtteilen zu entwickeln muss gegen gängige Vorurteile angekämpft werden. Neben den notwendigen baulichen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität fällt diesem Aspekt eine wichtige Bedeutung zu.

Bild: CHCC Kollektiv

Die Zukunft unserer Städte.

Unsere Städte heute und in der Zukunft.
Die weltweite Verstädterung prägt das 21. Jahrhundert. Die Vereinten Nationen erwarten, dass im Jahr 2050 mehr als 70% der Weltbevölkerung in Städten leben werden. Die nachhaltige Entwicklung unserer Umwelt bezieht sich so auch immer auf urbane Räume. In den Metropolen wird sich entscheiden wie gut Herausforderungen wie soziale Ungerechtigkeit, Umweltbelastungen und Ressourcenverbrauch bewältigt werden.23 Auf allen Kontinenten sind Städte eine kulturelle Leistung der Menschen. Sie sind einerseits Orte ökonomischen, technischen, sozialen, politischen und kulturellen Wandels, andererseits sind sie auch Zentren großen Ressourcenverbrauchs, wachsender Schadstoffemissionen und Kristallisationspunkte sozialer Ungerechtigkeit.
In sozialer, ökologischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht hat die nachhaltige Stadtentwicklung eine globale Bedeutung. Das Erreichen von Klima-, Entwicklungsund Nachhaltigkeitszielen und der Umbau zu effizienten und postfossilen Energiesystemen hängt in großem Maß von der Entwicklung der urbanen Räume ab. In Ihnen wird sich die weitere Entwicklung der Menschheit entscheiden.24
Die Qualität der Städte hat einen maßgeblichen Einfluss auf ihre Bewohner. Lebenswert wird ein urbaner Raum durch gleichberechtigten Zugang zu Grundversorgung, Wohn- und öffentlichem Raum und Möglichkeiten der kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Teilhabe. Der Abbau sozialer Ungleichheiten und Gegensätze stärkt das Zusammenleben der städtischen Bevölkerung. Gute Lebens- und Umweltbedingungen auch für einkommensschwache Haushalte sind dabei ein grundlegender Faktor. Eine gute Stadtplanung schafft sichere öffentliche Räume für Interaktion, Begegnungen und kulturelle Vielfalt. Die Qualität von Freiflächen und Gebäuden trägt zur Lebensqualität ihrer Bewohner bei. Eine funktionale und soziale Durchmischung bildet hierbei die Grundlage für neue Strukturen. Neben baulichen Qualitäten ist der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ein entscheidender Faktor für die Teilhabe aller Bewohner an der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung einer Stadt.25

Integrierte Stadtentwicklung.
Um die natürlichen Lebensgrundlagen einer wachsenden Bevölkerung innerhalb der Belastungsgrenzen der Erde zu sichern ist der Schutz von Natur und Umwelt sowie der effiziente Umgang mit Ressourcen entscheidend. Eine integrierte Stadtentwicklung trägt dabei entscheidend zur energetischen und postfossilen Umgestaltung des menschlichen Lebensraumes bei. Dazu gehören ein Ressourcenmanagement welches die verschiedenen Akteure der Stadtplanung einbindet und den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien und ein nachhaltiges Ver- und Entsorgungssystem fördert. Für die Zukunft der Großstädte sind anpassungsfähige, dezentrale und vernetzte Strukturen unabdingbar. Eine funktionale Mischung und Dichte fördert kurze Wege für die Bewohner innerhalb der Stadtstrukturen. Relevante Themen für die Entwicklung der deutschen Städte in den kommenden Jahrzehnten werden unter anderem der demographische Wandel, die Klima- und Energiewende und der wirtschaftliche Strukturwandel sein. Die Sicherung und Verbesserung der Nachhaltigkeit durch die Überlagerung von sozialen, ökonomischen, ökologischen und technologischen Veränderung ist eine der wichtigsten Herausforderungen.26

Quellen
(1) Schuler, Katharina: „Wohnraumoffensive – Bauminister Horst Seehofer sieht alle zentralen Punkte umgesetzt“, erschienen am 23. Februar 2021 auf www.zeit.de
(2) Uken, Marlies & Tröger, Julius: „Der Mietenboom ist vorbei“, erschienen am 22. Februar 2021 auf www.zeit.de
(3) Wagner, Gernot: „Zurück in die Stadt!“, erschienen am 26.02.2021 auf www.zeit.de
(4) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Großwohnsiedlung, Stand April 2017
(5) Vgl. Howard, Ebenezer: Gartenstädte von morgen: Ein Buch und seine Geschichte, (Bauwelt Fundamente, Band 21), 2015
(6) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Stadt#Wiederaufbau_nach_1945, Stand April 2017
(7) Vgl. Harlander, Tilmann: Die Modernität der Boomjahre in Arch+ Ausgabe 203, Seite 15, Aachen, 2011
(8) Vgl. Harlander, Tilmann: Die Modernität der Boomjahre in Arch+ Ausgabe 203, Seite 15, Aachen, 2011
(9) Vgl. Harlander, Tilmann: Die Modernität der Boomjahre in Arch+ Ausgabe 203, Seite 18, Aachen, 2011
(10) Vgl. Beckmann, Karen: Urbanität durch Dichte?, Seite 114 folgende, Bielefeld, 2015
(11) Vgl. Beckmann, Karen: Urbanität durch Dichte?, Seite 121, Bielefeld, 2015
(12) Vgl. Beckmann, Karen: Urbanität durch Dichte?, Seite 120, Bielefeld, 2015
(13) Vgl. Harlander, Tilmann: Die Modernität der Boomjahre in Arch+ Ausgabe 203, Seite 19, Aachen, 2011
(14) Vgl. Harlander, Tilmann: Die Modernität der Boomjahre in Arch+ Ausgabe 203, Seite 21, Aachen, 2011
(15) Vgl. Harlander, Tilmann: Die Modernität der Boomjahre in Arch+ Ausgabe 203, Seite 17, Aachen, 2011
(16) Vgl. Beckmann, Karen: Urbanität durch Dichte?, Seite 273, Bielefeld, 2015
(17) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Großwohnsiedlung, Stand April 2017
(18) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Großwohnsiedlung, Stand April 2017
(19) Vgl. Harlander, Tilmann: Die Modernität der Boomjahre in Arch+ Ausgabe 203, Seite 23, Aachen, 2011
(20) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Push-Pull-Modell_der_Migration, Stand April 2017
(21) Vgl. Kraft, Sabine: Die Großsiedlungen – ein gescheitertes Erbe der Moderne?, in Arch+ Ausgabe 203, Seite 52, Aachen, 2011
(22) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Großwohnsiedlung, Zitat von Jaeger, Falk in Beschreibung zur Ausstellung “Das Märkische Viertel – Idee Wirklichkeit Vision“,Berlin, 2004
(23) Vgl. Vereinte Nationen: Resolution der Generalversammlung (A/RES/71/256), Quito, Dezember 2015
(24) Vgl. Kraft, Sabine: The Future will be decided in the cities, in Arch+ Ausgabe 223,Seite 12, Aachen, 2016
(25) Vgl. BBSR: New Urban Agenda konkret Fallbeispiele aus deutscher Sicht, Seite 9 folgende, Bonn, 2016
(26) Vgl. BBSR: New Urban Agenda konkret Fallbeispiele aus deutscher Sicht, Seite 10, Bonn, 2016