Stadt & Land

Hofsgrund am Schauinsland von Julius Heffner von 1939/40 (von Stockhausen, 2019)

Gegensatz oder Symbiose?

Die Stadt, der Raum der Intellektuellen. Die Zukunft der Menschheit, sie liegt in der Stadt. Expert*innen verfassen Bücher über die Stadt, sie füllen Regale, erzählen von den Möglichkeiten und Potentialen. Die Stadt lebt, wächst, fördert Innovationen und bietet Diversität. Es scheint, als läge das Wohl der Menschheit in den Städten. Die Stadt wandelt und verwandelt sich, bietet große Auswahl und Vielfalt. In der Stadt ist jederzeit alles möglich, wann und wo es gewollt ist. Sie schenkt Anonymität und bietet die Freiheit, sein eigenes Leben ohne Zwänge und Konventionen zu entfalten. Viele verschiedene Kulturen, Lebensentwürfe, Nationen und Milieus teilen sich – im besten Fall konfliktfrei – den Stadtraum. Jene Stadtbewohner*innen respektieren dabei die unterschiedlichen gegenseitigen Ansprüche und Bedürfnisse, da die immanente Eigenschaft der Stadt die Tatsache ist, dass man eben nicht alleine lebt. Diese Vorstellung von Stadt hält sich eisern. Nicht in der Stadt zu leben: Ist das ein Leben zweiter Wahl?

Und das Land? In unserer Vorstellungswelt wird es geprägt von kleinen Dörfern und Städten, deren Mittelpunkt Kirche und Gasthaus, ferner auch der lokale Fußballclub bilden. Die Bevölkerung arbeitet hauptsächlich in der Landwirtschaft und lebt im traditionellen Familienverband. Der scheinbar einheitliche Lebensentwurf der Landbevölkerung hat zwei Seiten: Zur Positiven gehört der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft, die sich gegenseitig hilft und unterstützt. Sie wird getragen von Menschen, die ihre Freizeit mit Ehrenämtern verbringen, sei es in der Feuerwehr, beim Roten Kreuz, in der Kirche oder dem Sportverein. Die negative Kehrseite hingegen liegt ebenso in dieser Gemeinschaft, denn wer nicht passt, sich nicht einfügt, bleibt außen vor. Homogenität ist das gelebte Ideal, Andersartigkeit wird durch Ausschluss bestraft. Die Aufnahme in die Gemeinschaft ist an Bedingungen geknüpft, die oft schwer zu erfüllen sind und oft bleibt man ein Leben lang der oder die “Zugezogene”. Abweichende Lebensformen, Religionen oder sexuelle Vorlieben werden nicht oder nur schwerlich akzeptiert und für Menschen, die der jeweiligen Norm nicht entsprechen können oder wollen, bleibt der Wegzug in die Großstadt als einziger Weg in die Freiheit und Selbstbestimmung. Die starren Bahnen, in denen das Leben am Land läuft, lassen andere Lebensentwürfe kaum zu und Konformität erleichtert das Einfinden in der Dorfgemeinschaft sehr.

Um das aktuelle Spannungsfeld der Stadt-Land-Beziehung zu verstehen, ist es wichtig, die Entstehung unserer Vorstellung der beiden Lebensräume zu beleuchten. Einerseits ist sie stark durch die geschichtliche Entwicklung Europas geprägt, andererseits ist unsere Betrachtung dieser Räume – wie so oft – eine durch Medien, Werbung und Schulbildung erlernte Sicht. 

Im Magazin brand eins fasst Wolf Lotter (2019) die Entwicklung des Gegensatzpaares Stadt-Land zusammen: Seiner Meinung nach startet sie bereits im Römischen Reich, welches die Eroberung der gesamten bis dahin bekannten Welt zum Wohl und Reichtum der Stadt Rom selbst unternahm. Der Zentralismus des Weltreichs wird bis heute in der westlichen Welt praktiziert. Die Macht liegt im Zentrum, was diese Macht nährt und unterstützt, liegt außen herum. Die Vorstellung der zivilisierten Stadt als Insel im umliegenden, weniger entwickelten Umland, wird in den folgenden Jahren im europäischen Feudalismus immer weiter betont. Das Bürgertum entstand aus dem Versuch der Abgrenzung gegen den Adel und Klerus auf der einen Seite, sowie den unfreien Bauern auf der anderen. Der/Die neue Stadtbürger*in genoss Freiheiten und Wohlstand – diese Privilegien waren aber auch an Bedingungen geknüpft: Nur wer ein gewisses Vermögen besitzt und in der Stadt lebt gehört dazu. Obwohl die Aufklärer der französischen Revolution die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Bürger der Grande Nation fordern, wird die freie Entfaltung und Selbstverwirklichung aber nur den “zivilisierten” Bürger*innen in den Städten zugesprochen. Die damals erkämpften Bürger*innenrechte gelten heute als Grundlage der modernen Menschenrechte, doch zur Zeit ihrer Entstehung waren sie ein Privileg für Bewohner*innen der Stadt.

Die industrielle Revolution und die damit einhergehende Landflucht spitzt diese Situation weiter zu. Die Arbeit  zentriert sich in der Stadt, der Mensch geht zur Arbeit. Diese Entwicklung ist neu, denn traditionell arbeitet und lebt der Mensch bis dahin an demselben Ort, beispielsweise als Bauer/Bäuerin auf dem eigenen Hof oder als Handwerker*in mit Betriebsstätte im Haus. Im Zuge der Industrialisierung arbeiten viele Menschen nun gemeinsam in einer zentral gelegenen Fabrik. Die Städte wachsen rasant, die Ressourcen werden gebündelt, um Kosten für Transport und Zwischenlagerung zu sparen. Und diese große gesellschaftliche Umschichtung bedeutet für die Bevölkerung auch ein Leben in immer größer werdenden sozialen Strukturen. Die Interaktion auf dem Land beschränkte sich auf die wenigen Kontakte der Dorfgemeinde. In der Stadt eröffnen sich jedoch viele alternative Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit, allmählich auch mit besseren Verdienstmöglichkeiten und einer höheren Absicherung, als das einfache Landleben bietet, welches konstant der Gefahr unvorhersehbarer Ereignisse wie Dürren, Schädlingen und anderen Naturkatastrophen ausgesetzt ist. 

Dieser Siegeszug der Stadt als Lebensraum war vor allem in der sozialistischen Weltanschauung umjubelt. Im   1848 erschienenen Kommunistischen Manifest erklären Engels und Marx das städtische Bürgertum: “[…] hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen“ und dabei „enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen.” (Marx & Engels, 2015, S.15). Dieses Überlegenheitsgefühl der intellektuellen Elite wird durch das rasante Wachstum der Städte weiter untermauert. Jene Konnotation von Zentrum und Umland, von Konzentration und Abwanderung prägt bis heute unser Verständnis von Stadt und Land. Es entsteht der Eindruck das Land würde nur im Gegensatz zur Stadt existieren, denn auch Stumfol und Zech erklären das Land als “Restkategorie” und beziehen das auf die Definition im Duden, welche Land als “Gebiet außerhalb der städtischen Zivilisation” beschreibt. Stadt und Land gelten folglich schon seit jeher als Gegensatzpaar, in dem die Stadt die Oberhand hat (2019, S. 39). Dribbusch fasst es in der taz wie folgt zusammen:

“Die Frage rührt an kulturelle Normen und ist ein Politikum, denn die Verklärung der Millionenstadt als ‘the place to be’, den Ort, an dem die Arbeits-, Aufstiegs- und sexuellen Möglichkeiten unbegrenzt sind, an dem die Kreativität überbordet, diese Verklärung schafft eine Hierarchie: Wer es sich leisten kann, in einer Metropole zu wohnen, dessen Leben gilt als voller, als aufregender, und dies hebt auch das Selbstwertgefühl.”

(Dribbusch, 2020)

Dennoch flüchten sich Menschen seit der anhaltenden Urbanisierung, im Zuge der Industriellen Revolution, in Bilder und Vorstellungen der Landidyllen, die vor den Toren der Städte liegen. Jene Vorstellung der abgehängten Landregion wird seit der Romantik durch eine beschönigende, romantisierende Vorstellung der fast menschenleeren Natur- und Kulturlandschaften Europas ergänzt. Die Motive sind saftige Landschaften, welche auf traditionelle Weise von Bauern*Bäuerinnen bestellt werden, Nutztiere, die auf weiten, offenen Feldern ein glückliches Leben führen und Familien, die auf ihrem kleinen Stück Feld autark leben und dennoch genug produzieren, um den Hunger der industrialisierten und spezialisierten Städte zu stillen. Der Drang der Künstler*innen sich im Zuge der anhaltenden Verstädterung in die Idylle des Landlebens zu flüchten spiegelt die Sehnsucht der Bevölkerung, sich einfachen und überschaubaren Dingen zuzuwenden.  

Die Werbung nutzt diese Bilder seit vielen Jahren überzeugend, um landwirtschaftliche Produkte erfolgreich zu vermarkten. Dabei wird, neben der Verschleierung der tatsächlichen Zustände der hochindustrialisierten Landwirtschaft, weiter an dem Bild des Gegensatzes zur Stadt gearbeitet. Statt Überfüllung werden leere Landstriche, statt Beton und Asphalt werden Wiesen und Wälder Gegenstand der Vorstellungswelt Land (Stumfol & Zech, 2019).

Die Gegenüberstellung aktueller Werbekampagnen mit Gemälden der Romantik
zeigt, dass sich die Darstellung des Naturraums kaum verändert hat. (links: Werbekampagne der Firma „Schwarzwaldmilch“ (2019)/rechts: „Hofsgrund am Schauinsland“ von Julius Heffner (1939/40))
Ebenso wird das Leben der Bewirtschaftenden romantisiert und im Einklang mit der Natur dargestellt, obwohl sich das Ausmaß der Landwirtschaft seit der Romantik stark verändert hat (links: Videoframe der Firma Hofer aus einem Werbespot der “Zurück zum Ursprung”-Kampagne (2019)/rechts: Hirtenbub mit Kühen von Karl Roux (1873))

Eine aktuelle Tendenz lässt die große Menge an Magazinen erahnen, die den Namen Land im Titel tragen. Die im zweimonatigen Rhythmus erscheinende LandLust des Landwirtschaftsverlag Münster, Pionier der ehemaligen Nische, überholte die Auflage der Magazine Stern und Der Spiegel. Diese Entwicklung fußt laut Trendforscher Peter Wippermann auf dem Wunsch nach Vertrautem und Bekanntem in einer chaotischen Welt: 

„Wenn man sich klarmacht, dass diese Zeitschrift – die aus einem landwirtschaftlichen Verlag kommt und keinerlei News-Wert besitzt, sondern von verschwundenen Traditionen berichtet und die Natur mystifiziert – eine höhere Auflage hat als die einst größte Illustrierte Stern, dann bekommt man eine ungefähre Ahnung davon, wovon die Menschen in Deutschland träumen.”

(Simon, 2011)

Die ebenfalls im Verlag vertriebenen Inhalte wie Schweinezucht und Schweinemast oder Milchrind haben keinen thematischen Einfluss auf die Landlust. Die taz fasst die betonte Heimeligkeit als Antidote zum aktuellen Weltgeschehen wie folgt zusammen: 

“[Man] beschäftigt sich explizit nicht, wie man erwarten könnte, mit Klimawandel und Krise. Vielmehr sei man eine ‘Zeitschrift zum Entspannen’, sagt Chefredakteurin Frieling-Huchzermeyer der sonntaz. Man bietet ‘inhaltsreichen, leicht lesbaren Lesestoff’.”

(Das Erfolgsmagazin „Landlust“: Die Cash Cow vom Lande, 2009)

Diese Reduzierung der tatsächlichen Gegenwart auf dem Lande auf das Einkochen selbst geernteter Früchte und die Herstellung von Strohsternen für den Weihnachtsbaum, verniedlicht den Lebensraum Land und untermauert das romantische Bild des ewigen Gegenpols zur hektischen, produktiven Stadt.


Bevorzugte Wohngegenden nach Alter (Eigene Darstellung nach Nagel et al., 2019)

Trotz des immensen urbanen Wachstums, scheint die Idealvorstellung des Lebens bei der Mehrzahl der deutschen Bundesbürger*innen im idyllischen Landleben zu liegen. Laut einer Umfrage, die im Baukulturbericht 2018/2019 veröffentlicht wurde, wünschen sich 45% der Befragten in einer Landgemeinde zu leben und selbst 33% wollen in einer Mittel- oder Kleinstadt leben. Für 29% ist das Einfamilienhaus noch immer der bevorzugte Wohntyp. Dabei scheint die Sehnsucht jedoch nicht primär einer Gemeindeeinheit von weniger als 5.000 Einwohnern zu gelten, sondern eher der Vorstellung von einem ruhigen, heimatverbundenen Wohnort, der als Gegenpol zur unübersichtlichen globalisierten Großstadt Vertrautes verspricht. Betrachtet man zusammenfassend die sich wechselnden Stimmungen und Entwicklungen gemeinsam mit dieser Umfrage, so lässt sich möglicherweise von einem Trend oder einer Wiederentdeckung des Landes sprechen. Dies scheint nicht allein an den gestiegenen Mietpreisen der Städte zu liegen, sondern auch am Wunsch nach einer überschaubaren Welt. 

“Bislang galt für die Stadt- und Regionalentwicklung in Deutschland: Großstädte wachsen, ländliche Regionen schrumpfen und viele Dörfer sterben aus. (…) „Stadt“ war in, „Land“ war out. „Landflucht“ gilt in Deutschland als Naturgesetz.” 

(Dettling, 2020)

Politikforscher Daniel Dettling spricht vom Zukunftstrend „Glokalisierung“: Der Wunsch, Mitglied einer lokalen Gemeinschaft zu sein, schließt den Wunsch, Mitglied der Weltgesellschaft zu sein, nicht aus (Dettling, 2020). Die soziokulturelle Hierarchie zwischen Metropole und Kleinstadt ist obsolet und wird im zukünftigen Diskurs nicht weiter benötigt. Eine undifferenzierte Betrachtungsweise dieser heterogenen Lebenswelten durch die unendliche Reproduzierung der immer gleichen Bilder und Stereotypen helfen weder aussterbenden ruralen Gegenden noch übervollen Städten.